Dem Licht Leben eingehaucht
Reise ans Ende der NachtFrankfurter Rundschau, Jürgen Otten Beim ersten Mal klingt das Geräusch wie von ferne an unsere Ohren. Pling! macht es, und kaum können die Augen sich in dieser Düsternis zurechtfinden, um den Gegenstand, seine Herkunft und sein Ziel zu verorten. Wenig später das Gleiche noch einmal: Pling! Und nun wissen wir es. Da fällt, von Zeit zur Zeit, aus dem Schnürboden etwas herab, in einen Metalleimer, der wie zufällig dorthin gestellt anmutet. Doch der Eimer hat einen Sinn. Er definiert die Tiefe, in der sich die Protagonisten befinden. Die Bühne ist der Grund eines Brunnens, von dem nur ein Mann wie Thomas Manns Joseph zurückgelangt ans Licht der Welt. Nicht aber einer wie Roderick Usher, der die Finsternis als sein Lebenselixier erwählt und das Stammhaus derer von Usher in eine Werkstatt der nekrophil-mystischen Depression verwandelt hat.
Ihr Bruder hingegen ist als Körper nicht anwesend. Nur sein Kopf lugt aus einem Ausschnitt jenes Vorgangs hervor, der den hinteren Teil der Bühne rahmt. Roderick, das ist nur eine Stimme, die so klingt, als sei sie ein Einflüsterung für diejenigen, die noch Hoffnung haben in diesem Leben. Freyer gelingt hier mit minimalstem Aufwand ein schönes Bild. Denn so, wie er Roderick zeigt, ist schon der Hausherr in Poes gothic novel: "Er litt an einer krankhaften Verschärfung aller seiner Sinne". Durch die Fokussierung auf die Stimme und das schwarzumränderte Gesicht des Tenors Meik Schwalm entsteht exakt diese Aura der Kristallisation. Und der überspannten Einsamkeit. Denn auch die Tatsache, dass es sich sowohl bei Poe als auch bei Glass um solipsistische Existenzen handelt, verdeutlicht Freyers messerscharf choreographierte Arbeit, indem sie motorische Prozesse zeigt, die fast autistisch, zumindest aber redundant anmuten. Roderick und William etwa sehen einander nicht einmal, weil Matteo de Monti als William vorne an der Rampe postiert ist. Auch von ihm sieht man nur den Kopf, hört seinen viril intonierenden Bariton. Die (sprachlosen) Aktionen, die führt ein anderer für ihn aus. Das ist die vielleicht bemerkenswerteste Darstellung des Abends, weil sie über Klänge und sogar über Raum und Zeit hinausweist auf das Dilemma der Todesangst: Wie Henryk Antoni Opiela die Reise ans Ende der Nacht vermittels seiner Bewegungen beglaubigt; wie er die Verzweiflung des Gastes so quälend zum Ausdruck bringt, das lässt einem Schauer über den Rücken und durch das Denken laufen. Musikalisch bleibt der Abend im Ordnungsgemäßen. Michael Sanderling dirigiert das sparsam besetzte Ensemble der Kammerakademie Potsdam mehr mit sachlicher Zurückhaltung denn mit flammend-expressivem Gestus. Das Perpetuierende der Musik, ohnehin in dieser Oper stärker aufgebrochen als in anderen Werken des amerikanischen Komponisten, erscheint dadurch moderat, beinahe brav.
Horrorgeschichten und königliches PlaisirDie "Potsdamer Winteroper" bietet spannende Aufführungen im Theater des Neuen Palais. Tagesspiegel, 07.11.2009, Carsten Niemann Schwarze Wolken ziehen wie riesige Fledermäuse am fahlen Mond vorbei, kalte Regengüsse peitschen den mächtigen Bau des Neuen Palais: Das Wetter spielt mit bei dem Werk, mit dem die Potsdamer Winteroper gestern die 5. Saison im Schlosstheater Sanssouci eröffnete: Schließlich beruht die unheimliche Handlung von Philip Glass’ Oper „Der Untergang des Hauses Usher“ auf einer Novelle von Edgar Allen Poe – der als Begründer der Horrorgeschichte und der modernen Krimiliteratur gilt. Die 1987 entstandene Opernfassung erzählt von einem Mann namens William, der auf den Adelssitz seines erkrankten alten Jugendfreundes Roderick Usher gerufen wird. Die schauerlichen Vorkommnisse, deren Zeuge William im Hause Usher wird, lassen der Phantasie bis heute Raum: Warum hat Roderick seine eigene Zwillingsschwester lebend begraben? Und welche Macht ist es, die den Schlossherren am Ende vernichtet? Um die Zuschauer bei der Beantwortung dieser Fragen zu unterstützen, ist kein Geringerer als der Künstler Achim Freyer nach Potsdam gereist – und das, obwohl er mitten in seiner Produktion von Wagners „Ring des Nibelungen“ in Los Angeles steckt. Doch dem Hilferuf der ebenso künstlerisch ambitionierten wie finanziell notorisch klammen Winteroper konnte er sich nicht verschließen: „Ich habe sehr viel Sympathie für diese Operngruppe, die ich schon mehrmals in Potsdam gehört habe, und für das Theaterchen“ erklärt Freyer. Die Zusage des weltweit gefragten Regisseurs ist ein echtes Geschenk für die Winteroper und ihre Leiterin Frauke Roth. Denn aus den 250 000 Euro, die dem Gemeinschaftsprojekt von Kammerakademie Potsdam, Hans-Otto-Theater und lokalen Kulturveranstaltern für seine diesjährigen zwei Opernprojekte bereit- stehen, wäre ein Regisseur vom Range Freyers nicht zu bezahlen gewesen. Wobei die Inszenierung selbst ein Muster für gelungene künstlerische Ökonomie ist: Eine schwarze Bühne, die nur von Leuchtstoffröhren in der Hand der Darsteller erleuchtet wird, maskenhaft geschminkte Gesichter von Achim Freyers Schauspielern, welche die Sänger als bewegte Schatten doubeln, sowie ein alter Wassereimer, in den es von Zeit zu Zeit tropft – viel mehr braucht der Regisseur nicht, um eine dichte Atmosphäre des Unheimlichen und des Verfalls zu schaffen. Der Minimalismus der Ausstattung verbindet sich dabei bestens mit den suggestiven Wiederholungen von Philip Glass’ minimalistischer Musik, die von Michael Sanderling dirigiert wird. Und das ist kein Zufall: schließlich hat Achim Freyer in den 80er-Jahren mit seiner legendären Stuttgarter „Glass-Trilogie“ drei der wichtigsten Musiktheaterwerke des amerikanischen Komponisten uraufgeführt. Für Glass’ Oper gibt es nur noch Restkarten – doch die Winteroper hat Ende des Monats ein weiteres Musiktheaterwerk zu bieten: „L’Infedeltà delusa“, eine Opernburleske, die Joseph Haydn zur Unterhaltung der Gäste seines Dienstherrn Fürst Esterházy schrieb. Wer gute Opern sehen wolle, müsse nach Schloss Esterházy fahren, urteilte damals sogar Kaiserin Maria Theresia. Die Winteroper hat alles getan, damit dieser Spruch auch für Potsdam gelten kann.
Wenn Künstler in Gesten erstarren
Berliner Morgenpost Dass ein Weltstar wie Placido Domingo andächtig in der ersten Reihe saß, nahm das Publikum im Potsdamer Schlosstheater mit ebenso dezenter Gelassenheit zur Kenntnis. Dennoch wird sich manch einer gefragt haben, was denn den Startenor, der gerade an der Staatsoper Unter den Linden als Bariton reüssierte, in eine kleine und genau genommen unbedeutende Philip-Glass-Aufführung an den Stadtrand treibt.
„The Fall of the House of Usher“Die Herausforderung und die Gefahr des Scheiterns - das ist der Reiz am Theater.
Achim Freyer wurde am 30. März 1934 in Berlin geboren. Nachdem er Kunst studierte hatte wurde Bertolt Brecht durch Plakatentwürfe auf Freyer aufmerksam und nahm ihn als Schüler an die Akademie der Künste Berlin. 1972 siedelte Freyer nach West-Berlin über. Nach Arbeiten als Kostüm- und Bühnenbildner begann er Mitte der 70er auch zu inszenieren. Die Tätigkeit brachte ihn an einige der bedeutendsten Theater- und Opernhäuser der Welt. 1988 gründete er das nach ihm benannte "Freyer-Ensemble" mit Schauspielern, Tänzern und Musikern, die in seinen Inszenierungen mitwirken. Kammerakademie Potsdam Ein Interview mit Achim Freyer zu arrangieren ist keine leichte Angelegenheit. Vor allem wenn der vielbeschäftigte Regisseur in den USA weilt, wo er in Los Angeles gerade Wagners „Ring“ auf die Bühne bringt. Doch schließlich stand die Telefonleitung, einen Monat vor der Premiere seiner Inszenierung von Philip Glass’ Oper „The Fall of the House of Usher“ im Schlosstheater Potsdam, die am 06.11.2009 stattfindet. Herr Freyer, wie kam es dazu, dass Sie im Schlosstheater Potsdam die Oper von Philip Glass „The Fall of the House of Usher“ inszenieren? Sie haben es dennoch gemacht. Und der kleine Raum im Schloss-Theater hat Sie gereizt? Sie haben vor vielen Jahren in einem Interview gesagt, dass Sie modernes Theater in einem modernen Raum, wie zum Beispiel einer Fabrikhalle, langweilig finden würden. Helfen diese Gegensätze auch dem Zuschauer, Ihren Inszenierungen nahe zu kommen? Sie sagten vorhin „Glass-Spezialist“ - was verbindet Sie mit Philip Glass, im künstlerischen Sinne? Was ist dabei Ihr Konzept? Wie schafft man bei einer Oper eine Verbindung, wenn die Musik sehr repetitiv ist, die Handlung aber voranschreitet? Glass hat mit „The Fall of the House of Usher“ eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe vertont, er sagt, er will mit seiner Musik die emotionale Welt von Poe vermitteln... Sind Sie selbst, einen Monat vor der Premiere Ihrer Inszenierung noch auf der Suche? Nun würde der ein oder andere Zuschauer aber vielleicht denken, dass der Regisseur weiter ist, ein Werk durchschaut hat, dass er auf die Bühne bringt. Aber wie ist es mit diesem Wissen bei der Glass-Oper, die Sie aktuell inszenieren? Glass gibt Ihnen keinen Hinweis durch die Partitur? "Concerti - Das Berliner Musikleben" erschienen. www.concerti.de © Elmar Schwarze, studio 34
Märkische AllgemeineKunst ist Leben Mit Achim Freyer inszeniert ein Großer des Welttheaters Philip Glass’ Oper „The Fall of the House of Usher“ für Potsdams Winteroper. Mit dem Regisseur sprach Frank Kallensee. MAZ: Herr Freyer, in den 80er Jahren haben Sie drei Opern von Philip Glass in Stuttgart inszeniert. Die Musik wurde damals als „tönende Dauerwelle“ verspottet. Glass’ Popularität tat das allerdings keinen Abbruch und mit „Usher“ schließt sich nun für Sie ein Kreis. Was entdecken Sie in dieser Musik? Achim Freyer: Sich schließende Kreise sind mir unheimlich. Aber was mich an Glass nach wie vor interessiert, ist die Radikalität der Großstadtwelten, die er hörbar macht. Wie kein anderer lässt er das Serielle Klang werden, das unsere Zeit prägt. Im Gegensatz zu Steve Reich oder Terry Riley, die ebenfalls wichtige Minimal Music geschrieben haben, ist Glass weniger meditativ und für meine Begriffe viel näher an der Härte unserer Gegenwart.
Aber indem er einmal gefundene Akkorde oder Arpeggien in kreisenden Mustern wieder und wieder variiert, erzeugt er doch auch einen ungeheuren Sog? Freyer: Es ist eher ein Rausch. Wie bei einer Zug- oder Autofahrt. Es rauschen immer wieder dieselben Töne vorbei. Glass’ Musik ist bereit, Untermalung zu sein.
Dramaturgisch ist sie freilich auch arg sparsam. Freyer: Er ist halt Minimalist, er braucht nicht viel. Zugegeben, das macht es für mich als Regisseur, der das Publikum szenisch gewinnen muss, nicht einfach.
In diesem Fall haben Sie dafür 80 Minuten ... Freyer: Schon Edgar Allen Poes Erzählung ist für eine Bühnenhandlung kaum ergiebig. Und in der Opernfassung ist in das Ende dieser Erzählung noch eine weitere Erzählung gewoben, die uns wissen lässt, dass sich die beiden Männer William und Roderick von einer Tatsache ablenken, die sie bedrückt, die sie nicht sehen wollen. Das ist durchaus dramatisch, aber leider nicht zu illustrieren. Ich kann nicht plötzlich irgendeinem Drachen den Kopf abhauen, wenn ich im Haus Usher bin.
Was ist denn dann darstellbar? In Poes Erzählung wird die Finsternis immer finsterer, das Grauen immer grauenhafter. Freyer: Glass’ Musik ist Stimmungsmalerei. Er will keine Handlung, kein Psychologisieren, keine Spannung durch die Begegnung von Menschen. Die Sprache ist fragmentarisch, es fehlen geschlossene Gedankenbögen, es bleibt bei Episoden. Doch die zunehmende Dunkelheit, den zunehmenden Horror vermag er musikalisch auszudrücken. Ich will das nicht kontern oder wegnehmen, werde es aber auch nicht extra betonen. Ich versuche, die Geschichte lesbar zu machen.
Ihr Haus Usher ist eine abstrakte Dunkelkammer, erhellt nur durch Leuchtstoffröhren in den Händen der Akteure. Was ist das für ein Raum? Freyer: Es ist ein urtheatralischer Grundraum. Er ist so breit wie er tief und hoch ist. An drei Seiten hängen schwarze Faltenvorhänge. Falten sorgen immer für eine gewisse Aufregung, Vorhänge haben immer etwas Verbergendes. Ein Vorhang versteckt etwas – und wir verstecken nun Dinge, die nie zum Vorschein kommen werden. Stärker als bei Poe rückt die Oper die Geschwisterliebe der Zwillinge Roderick und Madeline ins Zentrum. Ist sie wirklich inzestuös? Oder ist sie „nur“ ein Albtraum des Erzählers William? Freyer: Albträume sind das Leben selbst. Sie sind genauso schmerzhaft, auch wenn sie nur im Bewusstsein des Menschen passieren. Im Übrigen ist die Realität, die wir als solche annehmen, auch ein Albtraum. Wir alle haben Dimensionen in uns, die wir nicht leben können. Darum machen wir ja Fasching und Karneval, um wenigstens an einem Tag im Jahr – mehr oder minder verunglückt – darüber zu reden. Ich inszeniere derzeit in Los Angeles Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Wer da nun die Liebe des Zwillingspaars Siegmund und Sieglinde auf einen Inzest reduziert, denkt fahrlässig kurz. Das sind keine Männeken von der Straße! Es sind Figuren der Bühne, die auch eine Sprache der Bühne sprechen. Eine, die wir nicht sprechen können, weil sie eine verdichtete ist. Deshalb funktioniert es auch nicht, die großen Werke der Opernliteratur in Alltagskleidung auf das Podium zu stemmen und sie auf wohlfeile Erklärungen des heutigen Menschen herunterzubrechen. Das ist ein lächerlicher Irrtum unseres Theaters.
Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ von 1976 – ein Irrtum? Freyer: Das war eine Provokation, die auch Spaß gemacht hat. Aber nur einmal. Die Trostlosigkeit verantworten doch Epigonen, die derlei seit Jahrzehnten kopieren! Doch zurück zum Thema: Siegmund und Sieglinde sind noch keine Menschen, sie sind gewissermaßen die Kinder eines Gottes und einer Wölfin. Der erste Mensch ist ihr Sohn Siegfried. Siegmund und Sieglinde sind so etwas wie der erste Menschen-Versuch, den Zeus sofort in zwei Hälften gespalten hat. In eine weibliche und eine männliche, jede für sich unvollkommen, auf der Suche nach der jeweils anderen und damit nach dem eigenen Ich. Die Spaltung verlangt nämlich nach der Zusammenführung. Zum Beispiel im Zustand höchster Liebe. Im Haus Usher geschieht nun ganz Ähnliches. Allerdings ist es komplizierter, weil Madeline keine leibhaftige Schwester ist.
Sie ist bloß eine Idee? Freyer: Der Musiker, Dichter und Philosoph Roderick ist eine Art Pygmalion, der die Einsamkeit genießt, sie vor allem aber braucht, um nach der Idealfigur seiner selbst zu suchen. Madeline ist seine Schöp- fung – und sein Selbstbildnis ...
... und existiert nur, weil über sie gesprochen wird? Freyer: Für den Arzt und den Diener, die dem lebensuntüchtigen, allzeit gefährdeten Roderick dienen, existiert Madeline tatsächlich nur, weil jeden Tag von ihr gesprochen wird. Genau besehen, sind diese vier Figuren eine einzige Figur. Wobei sich wiederum die Frage stellt, ob es letztlich nicht William ist, der sich in dieser Geschichte spiegelt, die er hier gerade berichtet. Diese Komplexität ist das Schöne an diesem Werk. Es erfüllt, was ich im Theater wichtig finde: Jeder Theaterabend ist das Selbstbildnis des Zuschauers. Wir gucken also mit William in einen Spiegel, in dem wir uns selber sehen.
Madeline hat keinen Text, nur Laute und Schreie. Freyer: Aber sie singt sie nicht als Wehklage oder Glücksjauchzen. Es sind Hohlformen, die mit Stimmungen gefüllt werden. Für Roderick kann das Sehnsucht, Schmerz, Vergessen sein. Es kann der Fehler sein, den er begeht, als er glaubt, seiner Qual des Kunstmachens ein Ende bereiten zu müssen. Deshalb ist er glücklich über Madelines Tod – und bricht im nächsten Moment zusammen, weil er ohne Madeline nicht sein kann. Sie muss wiederkommen und ihn holen. Denn der Künstler, der keine Kunst machen kann, kann nicht leben.
Also noch mal: Wer oder was ist Madeline? Freyer: Sie ist das, was überlebt.
Außer Madeline werden alle handelnden Figuren – Roderick, William, der Arzt und der Diener – gedoppelt: Es gibt die Sänger vorn im Graben und sich stumm bewegende Schauspieler auf der Rampe. Warum? Freyer: Jeder Lebende hat einen Schatten. Madeline hat keinen Schatten, weil sie allein Stimme ist. Sie ist der Wind, die Inspiration, die Muse, das Kunstwerk, die Schöpfung.
Der gesungene Text wird nicht eins zu eins in Handlungsabläufe auf der Bühne übersetzt? Freyer: Doch, etwa wenn der Arzt mitteilt: Madeline ist tot. Und wir schauen ja dem Albtraum Williams zu, in dem ihn die Liebesaffäre Rodericks und Madelines peinigt. Aber wie gesagt, es ist eben nicht verbotener Beischlaf, es ist die Vereinigung des Künstlers mit seiner Kunst. Kunst ist Leben.
Seit Ihrem Bühnenbild für Ruth Berghaus’ Inszenierung des „Barbiers von Sevilla“ 1968 in der Berliner Staatsoper sind Sie ein Begriff in der Welttheaterszene. Die Produktion ist immer noch im Repertoire, mithin von verblüffender Zeitlosigkeit ... Freyer: ... das ist ein gutes Stichwort. Ich meine, Theaterarbeit darf, genauso wie jede andere Kunst, zeitlos bleiben. Natürlich erzähle ich meine Zeit, aus meiner Zeit heraus und mit den Mitteln meiner Zeit. Aber der Gedanke ist frei und hängt nicht an der Zeit allein. Vor- und Rückgriffe machen Kunst zur Kunst. Was wäre denn unsere Kunst ohne die Antike? Ich verabscheue die Konvention, die Tradition verehre ich. Konvention bedeutet Anpassung an Geschmack und Mode. Tradition ist hingegen die einzige Möglichkeit, an ein Theaterwerk zu gehen, weil es immer aus der Geschichte kommt, auch wenn es heute geschrieben ist.
Dürfen wir dem Haus Usher Unsterblichkeit wünschen? Freyer: Zeitlosigkeit gerne. Denn konkret bleibt eine Theaterarbeit stets flüchtig. Mit anderen Sängern, Schauspielern, Musikern wird sie anders. Das ist ja das Aufregende.
Spielt eigentlich das Schlosstheater mit? Freyer: Ursprünglich wollte ich das. Da wir aber sofort für Gastspiele gebucht wurden, verlor das den Sinn. Wie soll ich Sanssouci nach Köln bringen? „The Fall of the House of Usher“ am 6., 7. November, 20 Uhr; 8., 15. November, 18 Uhr. Schlosstheater/Neues Palais, Park Sanssouci, Potsdam. Karten unter 0331/98118. Regisseur, Bühnenbildner, Maler Philip Glass’ Oper „The Fall of the House of Usher“ von 1988 ist – neben Claude Debussys Fragment – die einzige Bearbeitung der Novelle Edgar Allen Poes für das Musiktheater. Die Hauptpartien sind mit Tenor, Bariton und Sopran besetzt. In Potsdam werden Matteo de Monti, Meik Schwalm, Esther Lee Michael Rapke und Lianghua Gong singen. Michael Sanderling wird am Pult der Kammerakademie Potsdam stehen. fk 30.10.2009
Märkische Allgemeine ZeitungWINTEROPER: Poe vertont Wieder aufgenommen wird die Haydn-Oper „L’infedeltà delusa“, die musikalische Leitung hat Andreas Spering, Regie führt Jakob Peters-Messer. „The Fall of the House of Usher“ Premiere: 6. November, 20 Uhr. Weitere Termine und Karten unter 98 118.
„Potsdamer Winteroper“ kann stattfinden / Achim Freyer inszeniert im Schlosstheater
Potsdam-Kultur
Von Klaus Büstrin (22.05.09)
„The Fall of the House of Usher“
Der studierte Maler und Grafiker, den Bertolt Brecht einst als Meisterschüler ans Berliner Ensemble geholt hatte, ist einer der großen Alten des Welt-Theaters. Und „alt“ ist hier nicht despektierlich mit „überholt“ oder „von vorgestern“ zu übersetzen, sondern Ausdruck nötigen Respekts. Denn Freyer inszeniert in einer Liga, in der Peter Stein, Claus Peymann, Peter Zadek, Luc Bondy, Peter Brook oder Bob Wilson Mitspieler sind. Gerade hebt er in Los Angeles Wagners „Ring“ auf die Bühne – mit ein- em 32-Millionen-Dollar-Budget. Die Potsdamer Produktion, die am 6. November im Schlosstheater des Neuen Palais zur Premiere kommt, ist damit verglichen ein Geschenk. Arbeitet er doch für das im Rahmen eines Gesamtetats von 250000 Euro mögliche Honorar. Mit Blick auf die für ihn üblichen Gagen in Berlin, Wien, Salzburg, Venedig, Brüssel, München, Hamburg oder eben jenseits des Atlantiks ist dies also eher eine Aufwandsentschädigung. Denn die erwähnte Summe muss für zwei Opern reichen. Zum einen für die gemeinsam mit den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci und dem Staatstheater Wiesbaden gestemmte Burleske „L'infedeltà delusa“, mit der Joseph Haydn am Ende des Haydn-Jahres noch einmal applaudiert werden soll, indem Jakob Peters-Messer das Szenische und Andreas Spering das Dirigentische besorgen. Sie wird allerdings schon während der Musikfestspiele im Juni zu sehen sein und mithin „nur“ wiederaufgenommen. Neu hingegen, und zwar in mehrfacher Hinsicht, ist dann jedoch der Zweiakter „The Fall of the House of Usher“. Der Amerikaner Philip Glass hat diese Kurzgeschichte Edgar Allen Poes 1988 vertont, womit nun ein weiterer der großen Alten in Potsdam Einzug hält, in diesem Fall einer der Frontleute der Welt-Musik. Glass, dessen Soundtracks für Martin Scorseses „Kundun“ oder Peter Weirs „Truman Show“ für den Oscar nominiert wurden beziehungsweise einen Golden Globe gewannen, zählt mit Steve Reich und John Adams zu den wichtigsten amerikanischen Komponisten der Gegenwart. Angst vor Dissonanzen muss bei ihm freilich niemand haben. Glass' Minimal Music meidet Atonalität, berückt rhythmisch, variiert einmal gefundene Akkorde oder Arpeggien in kreisenden Mustern, die einen ungeheuren Sog erzeugen. Von seiner 1976 entstandenen Oper „Einstein on The Beach“ dürfte jeder schon gehört haben. Sie ist ein Best- und Longseller. Als die Kammerakademie Glass vorschlug, konnte Freyer nicht widerstehen. Nicht weniger gelockt habe ihn aber auch das Rokoko des Schlosstheaters. „Hier wollte ich immer mal was machen“, flüstert er, derweil sein Ensemble auf der Bühne probt – oder besser: improvisiert. Fünf Akteure bewegen sich auf der von keiner Kulisse verengten und in Düsterlicht getauchten Bühne. Langsam tragen, drehen, kreuzen, balancieren sie Leuchtstoffröhren, öffnen und schließen mit ihnen imaginäre Räume. Vom Schnürboden fallen in regelmäßigen Abständen Ausstattungsteile, künden vom unaufhaltsamen Untergang des Hauses Usher. Das, was Freyer & Co hier tun, lässt sich als „work in progress“ beschreiben. „Für gründelnde Analysen ist die Frist zu knapp“, sagt er. Schließlich wartet Wagner in Los Angeles. Doch er kennt seinen Glass und die Mimen der von ihm 1988 gegründeten Compagnie kennen ihn. Leise, aber stets bestimmt mischt er sich mit seinen Anweisungen in deren zirzensische Choreografie ein. Auf der Rampe agieren Schauspieler, die Sänger wird er im Graben davor platzieren. Der Sog saugt bereits ... So sehr, dass die Festtage Frankfurt (Oder) und das Staatstheater Cottbus Freyers „Usher“-Fassung nach der „Winteroper“ übernehmen wollen. „Und mit mehreren Interessenten sind wir noch im Gespräch“, freut sich Frauke Roth. Für die Geschäftsführerin der Kammerakademie muss das eine glückliche Fügung sein. Denn was sie nicht sagt, aber in den vergangenen Monaten durchsickerte: Nachdem – die Krise ließ grüßen – das Wirtschaftsministerium seine Förderung und Sponsoren ihre Beihilfen storniert hatten, sah alles nach einer „Winteroper“-Notausgabe aus. Die Sache mit Freyer zeigt nun, dass Erfolg nicht immer planbar ist. Manchmal, zugegeben selten, fällt er dem Tüchtigen in den Schoß. Der entscheidende Tipp kam von Hajo Cornel. Wobei Tipp wohl schon eine Übertreibung ist. Zumindest hielt der im Kultur- und Wissenschaftsministerium für die Kultur zuständige Abteilungsleiter die Anfrage bei Freyer für verrückt genug, um sie die Kammerakademie fragen zu lassen. „Freyer“, ist er überzeugt, „wird das Projekt ,Winteroper’ wieder ein Stück voranbringen. Ästhetisch – und programmatisch, was den Mut zum Zeitgenössischen angeht.“ Sein Ressort gibt jährlich 100000 Euro dazu. Die Stadt Potsdam ist mit 40000 Euro dabei. „Um die Finanzierung künftig zu sichern, hätte ich natürlich nichts dagegen, wenn die Kommune noch ein bisschen drauflegte.“ Das ließe sich gewiss auch Joachim Sedemund vom Trägerverein der Kammerakademie gefallen, würde ihm dadurch doch die „kommerzielle Verantwortung“ etwas erleichtert. „Mir geht es darum, das Niveau der ,Winteroper' stetig zu heben, sie überregional attraktiv zu machen. Für den Ruf Potsdams als Kulturstadt kann das doch nur von Vorteil sein.“ Die Erfahrung, dass mit einem Namen wie Freyer Sponsoren doch wieder zu locken waren, zeigt im Übrigen, dass die Richtung so falsch nicht sein kann. In der Tat können alle Beteiligten nur profitieren: Die Kammerakademie und das Hans-Otto-Theater als bewährte Ausrichter vorneweg, die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten als Hausherrin des Schlossthe- aters, die Potsdamer Hotels, die auf diese Weise in der „toten Saison“ auswärtige Gäste anlocken können, die Stadt, das Land – denn mit „Winteropern“ der Spitzenqualität lässt sich prima auf sich aufmerksam machen. Vor allem aber hat das Publikum etwas davon. „The Fall of the House of Usher“ am 6., 7. November, 20 Uhr; 8., 15. November, 18 Uhr. Karten ab sofort unter 0331/2370623. „L’infedeltà delusa“ am 27., 28. November, 19 Uhr; 29. November, 15 Uhr. Karten ab sofort unter 0331/98118. Schlosstheater/Neues Palais, Park Sanssouci, Potsdam. (Von Frank Kallensee)
FREYER-ENSEMBLE bei "EUGEN ONEGIN" an der Lindenoper
Solisten bewegen sich im Zeitlupentempo über die schräge Spielfläche, die Artisten vom „Freyer Ensemble“ umspielen sie Ergänzt wird er durch das gleichsam als pantomimischer Taktgeber für die szenischen Loops fungierende Freyer-Ensemble. Der Berliner Regisseur und Bühnenbildner Achim Freyer präsentiert mit seinem interdisziplinären Freyer-Ensemble seine Sicht auf das Werk.
"FR3Y3R3"Das grandiose Freyer-Ensemble vollführt dazu eine streng stilisierte Zeitlupen-Choreographie. Kleinste Gesten werden in diesem reduktionistischen Kunst- und Aktionsraum zu großen Ereignissen; eine schnelle Bewegung bekommt den Charakter einer erschüttern Katastrophe. Zwischen den Worten und den Aktionen klafft ein spannungsvoller Zwischenraum, in den sich eindringlich die Assoziation einschleicht. Detlef Brandenburg Die deutsche Bühne Achim Freyer entwirft in seiner Uraufführung „Ab und An - für Morton Feldman“ einen eigenen Kunstkosmos und bleibt nah dran an den Ideen Becketts und Feldmans. Das Stück hat keinen Anfang und kein Ende, es könnte ewig weiter gehen oder auch nur fünf Minuten dauern. In der Bonner Kunsthalle füllt es knapp eine Stunde, während der sich das Freyer-Ensemble mal unmerklich-zeitlupenhaft, mal ruckartig bewegt und immer wieder erstarrt. Stefan Keim, Die Welt, 6.10.2004
Orchesterstück Gießen, 30. April 2007
Zum einen führte das Freyer-Ensemble, gegründet 1992, das fantastisch-poetische „Orchesterstück“ auf, in welchem die Spieler ohne hörbare Musik mit hochvirtuosem, akrobatischen Körpereinsatz bewegende Raumskulpturen vorführten. Die Aufführung beeindruckte durch die eindringlichen Bilder. Tanja Löchel
„Wenn Du einem toten Hund begegnest oder Die Probe“Unter dem Titel „Wenn Du einem toten Hund begegnest oder Die Probe“ imaginiert der Maler, Regisseur und Bühnenbildner mit seinem Freyer-Ensemble „mit allen denkbaren Mitteln des Theaters, des Körperspiels, der Musik und der bildhaften Zeichen eine poetisch-musikalische Brecht-Probe“, teilte des Berliner Ensemble mit. Freyers Wortcollage sei dabei durch Brechts Gedankenwelt angeregt, die Form seiner Kunstaktion auch durch Kleists Marionettentheater. Neue Musikzeitung, August 2006 Achim Freyer – Meisterschüler von Bertolt Brecht – lädt ein, Brecht probierend zu träumen, ihn sich neu zusammenzusetzen, aus Zeichen einen eigenen Gedanken zu machen. Ein großes Vergnügen, wenn man Brecht nicht kennt, und ein noch größeres, wenn man ihn kennt. Theaterkanal April, 2007
„Zauberflöte für 2x10 Finger“
Sechs Mal hat Achim Freyer bisher Mozarts „Zauberflöte“ auf die Bühne gebracht. Ende 2005 entstand mit seinem Freyer-Ensemble die eigenwilligste und imaginativste Version, die nach der Premiere an der Oper Mannheim und einer Reihe von Gastspielen jetzt auch für einen Abend der Komischen Oper ein volles Haus bescherte. Ausgangspunkt dieser comicartigen Fantasie über die Zauberflöte , in der alles da ist, aber traumhaft fragmentiert, verschoben und verdichtet, ist die vierhändige Klavierbearbeitung der Oper von Alexander von Zemlinsky, von Dennis Russell Davies und Maki Namekawa feinsinnig musiziert. Martin Wilkening, 07.01.2007 Tagesspiegel Auf diese grobschlächtige Art zeigt Freyer dem Publikum, worum es wirklich geht in dieser Oper: um Vergewaltigungen jeder Art, um tyrannische Willkürakte und scheinheilige Priester. Freyers Theater ist bei aller bunten Phantastik innerlich auf der Suche nach einem Ausweg aus einer Gesellschaft, in der das Prinzip des Wettrüstens in alle Lebensbereiche übergegangen ist. Wolfgang Fuhrmann, Berliner Zeitung, Januar 2005 Tamino in der erotischen Welt der Weiblichkeit
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